Marile Holzner

Von der Entstehung der Form aus der Sprengung der Bildfläche und der Schönheit des Fehlers

Objekte aus Papier, so weich und in sich zusammensackend wie eine an die Wand gelehnte Matratze, so starr wie ein verbogener Kamm oder so zäh wie ein Kaugummi – die Arbeiten der 1983 in Landshut geborenen Künstlerin Marile Holzner machen emotionale Zustände auf Ebene des Materials erfahrbar. Sie bilden das Wirken von Kräften ab, handeln von sich selbst, von ihrer Materialität und erzählen von der Verformbarkeit ihrer Masse und ihres Volumens. Und von ihrer eigenen Entstehung.

Wie entsteht Form? Wie ein roter Faden zieht sich diese Frage von den frühen Arbeiten bis heute durch das Werk von Marile Holzner, die ihr Studium der freien Kunst an der Akademie der Bildenden Künste München bei Prof. Karin Kneffel absolvierte. Die Resultate der Suche nach Antworten haben sich im Laufe der Jahre verändert und bilden doch ein großes Ganzes, das sich in verschiedene Varianten auffächert und dabei immer wieder überrascht. Selten wird die Frage durch konkret realitätsbezogene Formen beatwortet: Faszinierend ist gerade die oftmalige Formlosigkeit der Objekte. Wie Elemente eines Zeichensystems, das wir erahnen aber nicht gänzlich ergründen können wecken sie Assoziationen an Bekanntes, ohne sich am Ende gänzlich dechiffrieren zu lassen.

Manche erinnern an Parabeln, an eine Ellipse, andere haben als Grundform ein Rechteck und sprengen dennoch durch Unregelmäßigkeiten in der Oberfläche oder Verschiebungen die Geraden des Rechtecks, sie durchbrechen die Geometrie. Wie eine eigene Sprache, ein System mit einem individuellen Rhythmus, erzählen die Arbeiten weniger von den Bedeutungen, als vielmehr vom Wandel und den Ursachen von Form: Geschichten von Bewegung durch Ausdehnung, Kompression oder Reibung. Nicht nur die Form, sondern auch das Material wird dabei zu einem wichtigen Protagonisten dieser Geschichte. Was geschieht im und mit dem Material, wenn ebenjene Kräfte des Dehnens, Zusammendrückens und Pressens oder der Reibung darauf einwirken? Wie wirken diese Kräfte und wie sehr verändern die Prozesse die Form? Wie kann das Kräftemessen des Körpers der Künstlerin mit dem Material abgebildet werden und wie zeigt sich dies? Wie wirken die Materialien gegenseitig aufeinander und inwiefern verändern die Arbeitsinstrumente die Form? Marile Holzner untersucht diese Überlegungen im Arbeitsprozess und verlässt sich dabei auf ihr intuitives Gespür. Als Ausgangpunkt dient ihr ein klassisches Tafelbildformat aus Papier. Dieses wird zerschnitten, neu zusammengefügt, geschliffen, verleimt oder aber lose mit Seilen oder Gewindestangen verbunden. Aus ihrem emotionalen Verhältnis zu den Verformungen, zu den sinnlichen Bearbeitungsmomenten, entscheidet sie, wann ein Objekt seine endgültige Gestalt erreicht hat. Am Ende des Prozesses hat sich das plane Papier in einen dreidimensionalen ‚Bildkörper’ verwandelt. Aus der statischen Begrenzung der Bildfläche wird eine dynamisch aufgebrochene. Und das, was wir sehen, ein Hybrid aus Bild und Objekt, ein objekthafter Bildkörper oder bildbasiertes Objekt. Auf jeden Fall das Resultat eines Vorgangs, der aus einem Blatt Papier eine dreidimensionale Gestalt erzeugt, indem sich die Bewegung des Schneidens mit der immer gleichen Vorgabe wiederholt, bis der Papierbogen komplett aufgebraucht ist. Die serielle Aneinanderreihung der so entstandenen Abschnitte lässt einen Körper entstehen. Dieser erhält seine spezifische Gestalt durch minimale Abweichungen. Die Bildkörper erinnern an Algorithmen, die jeweils um ein Weniges von der ursprünglichen Funktion abweichen.

1Selten sind ‚Fehler’ so kunstvoll und so wichtig, so wenig ein Manko und dafür so viel mehr Potenzial. Die Imperfektion der Form, das Verrutschen der Schablone, ist vor allem in den Arbeiten aus dem Jahr 2017 wesentlicher Bestandteil der Formentstehnung. Denn während die Plastiken aus den Jahren 2015 und 2016 ein noch recht geschlossenes Volumen aufweisen, zeichnen sich die jüngsten Arbeiten durch zunehmend raumgreifende und offene Umrisse aus. Die Bewegung, die zuvor maßgeblich im Material stattgefunden hat, findet sich hier in der Form selbst. Wie eine Spur, ähnlich einem Kometenschweif, ist die Dynamik der Verschiebung integraler Bestandteil des Objektes und macht das leichte Verrutschen der Schablone und damit auch den Prozess der Werkentstehung sichtbar.

Größtenteils unsichtbar sind dagegen am Ende die Farben, mit denen die Künstlerin das plane Ausgangspapier bearbeitet hat. Durch den Arbeitsprozess, das Zerschneiden und neu Zusammenfügen, wird die Bemalung fast ausschließlich ins Innere des Bildkörpers transferiert, nur wenig davon bleibt für den Betrachter ersichtlich. Dennoch können wir uns erschließen, dass sie da ist. Imagination ist hier vom Rezipienten gefordert und gerade das Spiel mit der Präsenz der Farbe durch kleine Andeutungen lädt uns dazu ein, die Plastiken im Geiste zu entfalten, die Stauchungen und Klebungen imaginär zu durchdringen. Ähnlich den Verhüllungen von Christo1 wissen wir, dass da etwas nicht, jedoch nicht genau, was da ist. Die Poesie, aber auch die Problematik der Vorstellungskraft, bringt der französische Autor Antoine de Saint-Exupéry in seiner Geschichte des Kleinen Prinzen auf den Punkt. Als hätte er die Arbeiten von Marile Holzner gekannt, versucht auch der Kleine Prinz den Erwachsenen zu vermitteln, dass Innen und Außen ein Ganzes bilden, selbst, wenn wir nur das Außen sehen können.

„Ich zeigte den Erwachsenen mein Kunstwerk und fragte sie, ob meine Zeichnung ihnen Angst mache. Sie antworteten: ‚Warum sollte ein Hut uns Angst machen?’ Meine Zeichnung zeigte keinen Hut. Sie zeigte eine Riesenschlange, die einen Elefanten verdaute.“2 Auch dem Künstler Piero Manzoni (1933-1963) lag viel an der Vorstellungskraft. In seiner Werkgruppe der „Linee“, von denen er seit 1959 mehr als 130 Exemplare schuf, zeichnete er auf bis zu sieben Kilometer lange Papierstreifen Linien, die er dann aufrollte und in Dosen verpackte.3 Auch hier verschwindet die Zeichnung im Inneren des Werkes. Auf eine ebenso faszinierende Weise wie Manzoni beschäftigt sich Marile Holzner mit der Linie. Auf den ersten Blick wirken die verleimten Papierarbeiten wie reliefartige Bilder, die fein angedeutete Gebirgssilhouetten oder Wellen zeigen. Würde man sie jedoch auseinanderfalten, blieben einzelne lange Linien übrig, die auf der Länge die Wellenbewegungen kaum mehr offenbaren würden. Erst die Stauchungen machen die Abweichungen offensichtlich. In diese Werkreihe der ‚Freihandlinien’ überprüft die Künstlerin die Genauigkeit von frei Hand gezeichneten Linien. Auch hier trägt der ‚Fehler’ zur Ästhetik des Werkes maßgeblich bei.

Formal erinnern die Arbeiten der Künstlerin stark an die Bewegung der Minimal Art, die in den 60er Jahren in den USA entstand. Künstler wie Donald Judd oder Carl Andre arbeiteten mit der seriellen Reihung einfachster Grundformen in dreidimensionalen Objekten. Ihr Anliegen ist es, die Wahrnehmung auf ihre eigenen Bedingungen zurückzuführen. Wir sollen uns nicht in der Darstellung verlieren, sondern uns bewusstmachen, wie Licht und Material miteinander spielen oder wie sich der Anblick mit unserem Blickwinkel verändert. Insbesondere Donald Judd verfolgt dabei die Idee, in seinen Objekten nichts abzubilden und sich auf nichts zu beziehen, „Dargestelltes und Darstellung sollen zusammenfallen“4. Wenn er dem Betrachter eine Reihung von Rechtecken aus Metall präsentiert, deren Inneres farbig bemalt ist, dann geht es ihm um die Ästhetik dieser Rechtecke, um ihren Schattenwurf, das farbige Leuchten und das Glänzen des Materials. So wie Marile Holzners Arbeiten dem Betrachter die Kräfte vor Augen führen, die sie verformt haben und die Lichtspiele, die auf ihrer Oberfläche stattfinden.

Ebenso lassen sich Parallelen zu Frank Stella ziehen, der Ende der 50er minimalistische Bilder fertigt, die er „als Objekt, als Gegenstand versteht“5. Alle diese Ideen finden bei Marile Holzner eine Neuinterpretation, eine Weiterführung im Medium des Papiers, welches sie sich auf ihre individuelle Weise zu eigen macht.

Um die Frage Marile Holzners nach den Bedingungen der Form und nach den Bedingungen des Bildbegriffes zu in ihrer Gänze zu begreifen, ist ein Blick auf ihre Herkunft aus der Malerei und der Zeichnung aufschlussreich. So entstand 2014 eine Serie von detailreichen und räumlichen Zeichnungen, die noch auf dem Papier die Veränderungen von Formen durchspielen. Ihnen folgt ein Zyklus von Arbeiten mit Tusche und Papier auf MDF-Platten, in welchen die Formen zunehmend abstrakter und reduzierter werden. Die Beziehung zwischen Form und Hintergrund wird hier nach und nach das zentrale Thema, immer mehr füllen die Formen letztlich den Grund und drängen den umgebenden Bildraum zurück, bis sie bereits 2015 den Platz des Bildes einnehmen und selbst Bild werden. Um sich dann weiter zu verselbständigen und vom planen Bild in die Dimension des Bildkörpers, des plastischen Objektes zu wechseln. Formvollendet und von minimalistischer Ästhetik.

Anne Simone Krüger, Kunsthistorikerin


1 Der Künstler Christo wurde in Deutschland schlagartig bekannt, als er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und künstlerischen Partnerin Jeanne-Claude 1995 den Reichstag in Berlin verhüllte. Zwar war das Gebäude unter dem verschnürten Gewebe noch zu erahnen, aber nicht mehr zu sehen. Die Verhüllung ließ lediglich die Silhouette erahnen.

2 Antoine de Saint-Exupéry: Der Kleine Prinz, Köln 2015, S.7.

3 http://blog.staedelmuseum.de/piero-manzoni-gestern-und-heute/ (27.4.18) 2Formal erinnern die Arbeiten der Künstlerin stark an die Bewegung der Minimal Art, die in den 60er Jahren in den USA entstand. Künstler wie Donald Judd oder Carl Andre arbeiteten mit der seriellen Reihung einfachster Grundformen in dreidimensionalen Objekten. Ihr Anliegen ist es, die Wahrnehmung auf ihre eigenen Bedingungen zurückzuführen. Wir sollen uns nicht in der Darstellung verlieren, sondern uns bewusstmachen, wie Licht und Material miteinander spielen oder wie sich der Anblick mit unserem Blickwinkel verändert. Insbesondere Donald Judd verfolgt dabei die Idee, in seinen Objekten nichts abzubilden und sich auf nichts zu beziehen, „Dargestelltes und Darstellung sollen zusammenfallen“4. Wenn er dem Betrachter eine Reihung von Rechtecken aus Metall präsentiert, deren Inneres farbig bemalt ist, dann geht es ihm um die Ästhetik dieser Rechtecke, um ihren Schattenwurf, das farbige Leuchten und das Glänzen des Materials. So wie Marile Holzners Arbeiten dem Betrachter die Kräfte vor Augen führen, die sie verformt haben und die Lichtspiele, die auf ihrer Oberfläche stattfinden. Ebenso lassen sich Parallelen zu Frank Stella ziehen, der Ende der 50er minimalistische Bilder fertigt, die er „als Objekt, als Gegenstand versteht“5. Alle diese Ideen finden bei Marile Holzner eine Neuinterpretation, eine Weiterführung im Medium des Papiers, welches sie sich auf ihre individuelle Weise zu eigen macht. Um die Frage Marile Holzners nach den Bedingungen der Form und nach den Bedingungen des Bildbegriffes zu in ihrer Gänze zu begreifen, ist ein Blick auf ihre Herkunft aus der Malerei und der Zeichnung aufschlussreich. So entstand 2014 eine Serie von detailreichen und räumlichen Zeichnungen, die noch auf dem Papier die Veränderungen von Formen durchspielen. Ihnen folgt ein Zyklus von Arbeiten mit Tusche und Papier auf MDF-Platten, in welchen die Formen zunehmend abstrakter und reduzierter werden. Die Beziehung zwischen Form und Hintergrund wird hier nach und nach das zentrale Thema, immer mehr füllen die Formen letztlich den Grund und drängen den umgebenden Bildraum zurück, bis sie bereits 2015 den Platz des Bildes einnehmen und selbst Bild werden. Um sich dann weiter zu verselbständigen und vom planen Bild in die Dimension des Bildkörpers, des plastischen Objektes zu wechseln. Formvollendet und von minimalistischer Ästhetik. Anne Simone Krüger, Kunsthistorikerin